Einleitung

Die Numerologie ist natürlich keine annerkannte Wissenschaft und wird daher z.B. von Wikipedia unter dem Begriff “Zahlenmystik resp.”Zahlensymbolik" geführt. Sie fällt damit in eine ähnliche Kategorie wie die Astrologie, welche sich zur Astronomie ebenso verhält, wie die Numerologie zur Mathemathik. Astronomie und -logie untersuchen die Gesetze des Firnaments, Mathematik und Numerologie die der Zahlen. Der entscheidende Unterschied: Erstere folgend mehr oder weniger willkürlich definierten Formalismen und erachten Empirie als hinreichende Beweisführung, während der Formalismus letzterer strikter Natur ist und Empirie allenfalls als Hinweis, keinesfalls jedoch als Beweis betrachtet wird.

Dirac war für mich immer der Inbegriff des mathematisch klaren und reinen Geistes. Jemand, der es mit seiner Abstraktionsgabe als erster schaffte, den von Physikern wie Heisenberg und Schrödinger geprägtern Formalismus der Quantenphysik auf eine mathematisch transparente und somit handhabbare Basis zu stellen. Sein Lehrbuch “The Principles of Quantum Mechanics”1 war derart wegweisend, dass praktisch alle seiner Kollegen nur Lob für diese Veröffentlichung übrig hatten.

Dennoch war Dirac oft umstritten. Er hatte viele Hypothesen, die sich später als nicht haltbar erwiesen. Vielleicht braucht es phantasievolles Denken, um auf Ideen zu kommen, die sonst niemand hat. Vielleicht ist es wie bei jedem Erfolg: Zwar ist dieser aufgebaut auf stetigem Trial and Error, Erfolgen und Misserfolgen - doch die Aussenwelt sieht am Ende nur den Erfolg. Der steinige Weg dorthin bleibt meist verborgen. Diracs Erfolge überschatten seine Misserfolge, doch vielleicht brauchte es genau diese Strategie, um überhaupt Erfolge vorzuweisen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Wirklich erstaunt war ich, als ich von Diracs “Large Numbers Hypothesis” (LNH) las. Denn es erinnerte mich an den Glaubensmechanismus, der Basis der Trivialwissenschaften ist: Einer Koinzidenz wird eine Erklärung zugesprochen, welche dann im Weiteren als Axiom angewand wird. Die biblische Zahl des Tieres, 666, besitzt aufgrund ihres Erwähnens in der Bibel bereits eine intrinsisch-mystische Bedeutung. Einer Häufung der Observation dieser Zahl, z.B. auf Kontrollschildern von Fahrzeugen, wird von Numerologen eine besondere Bedeutung beigemessen. Schlussfolgerungen sind dann naheliegend, unterliegen zwar allein der Phantasie des Beobachters, werden von diesem aber zur Wahrheit erhoben.

Dirac fand eine solche Koinzidenz bezüglich grosser Zahlen im Laufe seiner theoretischen Forschung. Er war sicherlich der Meinung, die Relevanz einer Mathematik sei proportional zu ihrer Ästhetik, nicht aber zu ihrer Nachweisbarkeit. Eine aus heutiger (und auch damaliger) Forschersicht mutige Meinung, die ich bei vielen Vermutet hätte, nicht jedoch bei einer Koryphäe wie Dirac. Bei aller Phantasie, die Genies benötigen, um auf geniale Ideen zu kommen - er war nicht der einzige mit einer solchen Phantasie: Einstein, Heisenberg, Bohr … alle ausgewiesene Genies mit beachtlicher Phantasie, die aber niemals den Pfad der wissenschaftlichen Prinzipien verliessen.

Seine LNH war äusserst umstritten. Es gab nur wenige Kollegen, die sie ernst nahmen. Und doch liess es mir seine LNH keine Ruhe: Wenn ein Dirac derart von einer Idee überzeugt war - trotz gegenteiliger Nachweise und sogar bis zu seinem Tode - dann muss diese es wert sein, sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Diracs LNH

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blühte die theoretische Physik dank Einsteins Arbeit und die der Quantenphysiker auf. Einigen Forschern fiel auf, dass gewisse sehr grosse Zahlen immer wieder auftauchten, und zwar derart gehäuft, dass eine reine Koinzidenz statistisch unwahrscheinlich schien. Dabei handelte es sich interessanterweise um dimensionslose Zahlen, um Ratios im Zusammenhang mit Naturkonstanten, z.B. das Verhältnis der Masse eines Protons zu dem eines Elektrons: \[\frac{m_{e}}{m_{p}}\]

Ein weiteres Beispiel, das Dirac anbrachte, war das Ergebnis einer Rechnung, die das Planckschen Wirkungsquantums in einen Zusammenhang zu der des Elektrons setzt, die Feinstrukturkonstante

\[\alpha = \frac{e^2}{\hbar c4\pi\epsilon_0} \approx \frac{1}{137.03599908}\] Das Buch “Glimpsing Reality: Ideas in Physics and the Link to Biology”2 enthält unter anderem das Transkript eines Interviews mit Dirac zu diesem Thema. Er stellt dabei die Frage, wie es ausgerechnet zu dem Nenner von \(\approx 137\) kommt. Warum nicht irgend eine andere Zahl? Warum nicht 100 oder 200? Und er postuliert, es müsse einen Grund geben, wenn eine solche Naturkonstante exestiere. Nun klingt das zunächst wie eine Frage nach dem Grund dafür, dass man in einem bestimmten Hotelzimmer verstirbt. Einen anderen als Zufall. Aber das wäre zu kurz gegriffen. Denn Dirac hat einen wichtigen Punkt: Eine Naturkonstante ist naturgegeben und daher ist eine andere Ursache als Zufall wahrscheinlich. Man bedenke: Dirac war ein Pionier der Quantenmechanik, folglich sicher kein Gegener des Konzepts “Zufall”.

Nun ist es so, dass gewisse andere Ratios sehr grosse Zahlen ergeben. Beispiele:

Kräfte

Sowohl die elektrostatische Kraft \(F_c\) zwischen Protonen und Elektronen als auch die Gravitationskraft \(F_g\) nehmen mit dem Quadrat ihres Abstandes ab:

\[F_c = \frac{e^2}{4\pi\epsilon_0r^2}\]

\[F_g = G\frac{m_em_p}{r^2}\] Bildet man nun ihr Verhältnis, so entfällt \(r^2\), also ist ihr Verhältnis unabhängig von ihrer Distanz. Sie ist eine grosse Zahl:

\[\frac{F_c}{F_g}=\frac{e^2}{4\pi\epsilon_0Gm_em_p} \approx 2.27\cdot10^{39}\]

Man beachte den den Faktor mit der 39. Potenz: \(10^{39}\). Ratios dieser Grössenordnung sind es, um die es in Diracs LNH geht. Interessanterweise sind es zumeist Ratios, die sehr mikroskopische Grössen (z.B. subatomare Teilchen) in ein Verhältnis zu makroskopischen Grössen (z.B. Galaxien) setzen, etwas, das auch der Fraktaltheorie Nährboden gibt.

Anzahl Elektronen

Die oben genannte Ratio lässt sich ebenfalls mit etwas vollkommen unerwartetem vergleichen. Die Ratio dieser Kräfte entspricht ungefähr \(\sqrt{N}\), also der Wurzel der Anzahl der geladenen Partikel des Universums:

\[\frac{e^2}{4\pi\epsilon_0Gm_e^2} \approx \sqrt{N} \approx 10^{40} \]

Längen

Der Radius eines Elektrons, \(r_e\), kann berechnet werden mit

\[r_e=\frac{e^2}{4\pi\epsilon_0 m_e c^2} \approx 3\cdot 10^{-15}\mathrm{m}\] Erstaunlicherweise beträgt die Ratio dieser elementaren Länge zu dem Radius des Universums

\[R_U=ct=10^{26}\mathrm{m}\] mit

\[\frac{R_U}{r_e} \approx 3 \cdot 10^{40}\] also wieder ein Faktor derselben Grössenordnung wie zuvor.

Nun zog Dirac eine interessante Schlussfolgerung: Das Universum expandiert nachweislich. Vorausgesetzt, der Ratius eines Elektons bleibt konstant, so muss sich die Ratio \(\frac{r_u}{r_e}\) mit der Zeit ändert. Und noch mehr: Wenn dies für diese Ratio gälte, dann auch für alle anderen Ratios der Naturkonstanten. Es existieren genügend weitere Beispiele:

Zeit

Das Licht braucht die Zeit \(t=10^{-23}\mathrm{s}\) um die Strecke der elementaren Länge zurückzulegen, da

\[t_e=\frac{r_e}{c}\]

Das Alters des Universums beträgt

\[t_U=6,2\cdot10^{17}\mathrm{s}\] und das Verhältnis dieser beiden Zeiten

\[\frac{t_U}{t_e}=6 \cdot 10^{40}\] Diracs Hypothese ging so weit, dass er behauptete, solche Koinzidenzen wären erklärbar, wenn sich die Naturkonstanten selbst mit \(t_u\) änderten, insbesondere die Gravitatinskonstante \(G\), welche mit der Zeit abnehmen sollte:

\[ G \approx \frac{1}{t} \] Allerdings muss \(G\) gemäss der allgemeinen Relativitätstheorie auch über die Zeit konstant sein.

Vergleich Ratios

Erstaunlicherweise ergibt sich somit, dass die Ratios der Kräfte Gravitation und Elektrostatik zwischen Elektron und Proton ebenso ungefähr gleich der Ratio des Alters des Universums zu der elementaren Zeitkonstante sind, wie sie ungefähr gleich der Ratio des Elektronenradius zu dem Radius des Universums sind:

\[ \frac{F_c}{F_g} \approx \frac{r_u}{r_e} \approx \frac{t_u}{t_e} \approx \sqrt{N} \] Dies ist äusserst erstaunlich, und aus numerologischer Sicht sicherlich mystisch.

Aktuelle Wahrnehmung

Dass sich \(G\) ändert, daran glaub heute kaum noch jemand. Allerdings existiert inzwischen die Theorie der kosmologischen Inflation. Robert A. J. Matthews hat hierzu einen spannenden Artikel verfasst, der hier nachgelesen werden kann. Eine kürzere Erklärung ist auf Quora gegeben. Beide stellen zwar nach wie vor Diracs Idee von einer Änderung von \(G\) mit der Zeit in Frage. Allerdings erkennen sie durchaus einen Zusammenhang zwischen den Ratios.

Dirac sagte, er wolle, dass alle grossen Zahlen mit dem Alter des Universums zusammenhängen. In der zuletztgenannten Anmerkung wird dargestellt, dass 1.663 Sekunden nach dem Urknall, gerade als Protonen und Elektronen entstanden, sich vier Kräfte manifestierten, welche in folgendem Zusammenhang standen:

Ratio superstarke Kraft vs. Gravitation: \[\frac{1.663\mathrm{s}}{4\cdot10^{-43}\mathrm{s}}=4.157\cdot 10^{42}\]

Ratio starke Kraft vs. Gravitation: \[\frac{1.663\mathrm{s}}{7.358\cdot10^{-40}\mathrm{s}}=2.260\cdot 10^{39}\]

Ratio superschwache Kraft vs. Gravitation: \[\frac{1.663\mathrm{s}}{1.352\cdot10^{-36}\mathrm{s}}=1.230 \cdot 10^{36}\]

Ratio schwache Kraft vs. Gravitation: \[\frac{1.663\mathrm{s}}{7.628\cdot10^{-35}\mathrm{s}}=2.18 \cdot 10^{34}\]

Und da sind sie wieder, die sehr grosse Zahlen, 1.633s nach der Geburt des Universums! Damals, als ihr Zusammenhang noch offensichtlich war. Es scheint also, dass uns die Koinzidenz nur deshalb seltsam vorkommt, weil damals das Universum so anders war als es uns heute erscheint.

Ist Numerologie also doch nicht trivial? Ich glaube schon. Dann, wenn sie jedlicher wissenschaftlicher Basis entbehrt. Andererseits ist es ureigenste Eigenschaft seriöser, wissenschaftlicher Arbeit, Analoga, Muster, Patterns zu erkennen und zu deuten. Die Deutung mag manchmal falsch sein. Doch anzunehmen, dass jede Koinzidenz Zufall sei, ist ebenso inhaltslos, wie das Gegenteil. Ist eine Koinzidenz aufgedeckt, so ist es hochwissenschaftlich, sie zu analysieren, Hypothesen aufzustellen und diese zu beweisen oder zu widerlegen.

So oder so: Je weiter wir in das Alter des Universums zurückblicken, desto stärker werden die relativen Kräfte. Und so scheint Dirac doch recht zu behalten: “Alle grossen Zahlen sind mit dem Alter des Universums verbunden.”

References

1 Dirac PAM. The principles of quantum mechanics (Clarendon Press, 1981).

2 Paul Buckley FDP. Glimpsing reality: Ideas in physics and the link to biology (Univ of Toronto Pr, 1996).