Vibe Coding: Warum überhaupt programmieren
lernen?
Prof. Dr. Raphael Volz (HSPF)
2025-09-25 (HAWAII 2025)
Der Paradigmenwechsel in der Softwareentwicklung
Hauptthese
Das Erlernen des Programmierens im KI-Zeitalter dient nicht mehr
primär dem mechanischen Akt des Code-Schreibens, sondern der Entwicklung
der fundamentalen Expertise, systematisch zu denken und robuste Systeme
zu entwerfen.
Der Paradigmenwechsel in der Softwareentwicklung
Kernpunkte
- Vom Produzenten zum Dirigenten: Entwickler steuern
KI-Assistenten, anstatt jede Code-Zeile manuell zu erstellen.
- Fokus auf “Warum” & “Wie”: Die strategische
Systemarchitektur rückt in den Vordergrund, während die KI das “Was” der
Implementierung übernimmt.
- Menschliche Expertise als Kernkompetenz: Kritisches
Denken und die Validierung von KI-Ergebnissen werden entscheidend.
Was ist “Vibe Coding”?
Definition:
Geprägt von KI-Forscher Andrej Karpathy, beschreibt “Vibe Coding” die
Nutzung von KI zur Code-Generierung aus natürlichsprachlichen
Anweisungen.
Zwei Ausprägungen:
“Reines” Vibe Coding (Riskant): Blindes
Akzeptieren von KI-Code ohne tiefes Verständnis. Geeignet für
Prototypen, aber untragbar für kommerzielle Anwendungen.
Verantwortungsvolle KI-Assistenz
(Professionell): Die KI agiert als “Pair Programmer”. Der
Mensch leitet an, überprüft, testet, versteht den Code vollständig und
übernimmt die alleinige Verantwortung.
Was ist “Vibe Coding”?
![Design Google Stitch]()
Was ist “Vibe Coding”?
![Design Google Stitch]()
Die neue Entwicklerrolle
Vom Handwerker zum
Architekten
Fokus auf Syntax und Semantik |
Fokus auf Absicht und Ergebnis |
Manuelle, zeilenweise Code-Erstellung (z.T. mit Auto-Complete) |
Dialogbasierte Steuerung von KI-Assistenten |
Entwickler als “Handwerker” |
Entwickler als “Architekt” & “Qualitätsmanager” |
Wissen über spezifische Algorithmen |
Systemdenken und Validierungsfähigkeiten |
Kernbotschaft: KI ist eine neue Abstraktionsebene.
Die kognitive Leistung verschiebt sich vom Erinnern an Syntax zur
Formulierung präziser Absichten und kritischer Bewertung der
Ergebnisse.
Phase 1: Konzeption & Design
Architekt statt Handwerker
KI als “Junior-Analyst”:
Analysiert User Stories und generiert UI-Mockups und Prototypen in
Minuten statt Tagen.
Neue menschliche Kernkompetenzen:
- Systemdenken: Das Gesamtbild und komplexe
Wechselwirkungen verstehen, die die KI nicht kennt.
- Anforderungs-Validierung: Kritische Fragen stellen
und Ambiguitäten interpretieren.
- Design-Trade-offs: Strategische Entscheidungen
zwischen Skalierbarkeit, Kosten, Sicherheit und Performance
treffen.
- Ethik & Empathie: Ein faires, zugängliches und
menschzentriertes Design sicherstellen.
Phase 2: Implementierung
Der kritische
Qualitätsmanager
KI als “fleißiger Schreiber”:
- Generiert Code-Blöcke und automatisiert Routineaufgaben, was die
Produktivität erheblich steigern kann.
- RISIKO: KI-Code kann Sicherheitslücken, schlechte
Praktiken und logische Fehler enthalten.
Neue menschliche Kernkompetenzen:
- Kritisches Code-Review: Den generierten Code Zeile
für Zeile verstehen, prüfen und validieren. Man kann nicht
validieren, was man nicht versteht.
- Kontextuelle Integration: Sicherstellen, dass sich
der Code nahtlos in die bestehende Architektur einfügt.
- Verantwortung: Der Entwickler, nicht die KI, ist
für den Code verantwortlich.
Phase 3: Testen
Der strategische
Risikobewerter
KI als “unermüdlicher, aber blinder Tester”:
- Generiert automatisch Tausende von Unit-Tests und deckt
Standardszenarien ab.
- Besitzt jedoch keine Intuition, oft fehlt Domänenwissen und
Kreativität.
Neue menschliche Kernkompetenzen:
- Teststrategie-Entwicklung: Entscheiden,
was mit welcher Intensität getestet werden muss,
basierend auf Geschäftsrisiken.
- Exploratives Testen: Kreatives, ungeskriptetes
Suchen nach unerwarteten Fehlern und Designschwächen.
- Edge-Case-Analyse: Gezieltes Untersuchen komplexer
Grenzfälle, die eine KI übersieht.
Phase 4: Debugging
Der System-Detektiv
KI als “Hilfs-Assistent”:
- Analysiert Log-Dateien, lokalisiert wahrscheinliche Fehlerquellen
und schlägt Lösungen vor.
- RISIKO: KI-Fixes können das Symptom, aber nicht die
tiefere, systemische Ursache beheben.
Neue menschliche Kernkompetenzen:
- Systemische Ursachenanalyse: Über die einzelne
Code-Zeile hinausblicken und nach architektonischen Grundproblemen
suchen.
- Hypothesenbildung: KI-Vorschläge als Spuren nutzen
und systematisch im Gesamtsystem überprüfen.
- Kontextuelles Debugging: Domänenwissen einbringen,
um zu verstehen, warum technisch korrekter Code im Geschäftskontext
falsch ist.
Phase 5: Iteration & Wartung
Der visionäre
Systemverwalter
KI als “Protokollant & Wachposten”:
- Automatisiert die Erstellung und Aktualisierung der
Dokumentation.
- Überwacht die Systemleistung und schlägt proaktiv Optimierungen
vor.
Neue menschliche Kernkompetenzen:
- Management von Technical Debt: Strategisch
entscheiden, wann und wie technische Schulden abgebaut werden sollen –
eine ökonomische Entscheidung.
- Architektonische Weiterentwicklung: Vorausschauend
planen, um sicherzustellen, dass die Architektur zukünftige
Anforderungen tragen kann.
- Langfristige Vision: Die Produktentwicklung im
Einklang mit der Unternehmensstrategie steuern.
Synthese: Die neuen Grundpfeiler der Ausbildung
Was Hochschulen jetzt
lehren müssen
- Abstraktion & Systemdenken
- Vom Algorithmus zur Architektur: Wie man komplexe,
interagierende Systeme entwirft, modelliert und baut.
- Kritisches Denken & Validierungskompetenz
- Vom Schreiben zum Überprüfen: Wie man KI-generierten Code
auf Qualität, Sicherheit und Korrektheit prüft.
- Intelligente Kollaboration & Kommunikation
- Vom Einzelkämpfer zum KI-Dirigenten: Wie man präzise mit
KI-Systemen kommuniziert und in hybriden Teams arbeitet.
Curriculum-Fokus 1: Abstraktion & Systemdenken
Vom Algorithmus zur
Architektur
Was wir lehren müssen:
- Software-Architektur-Muster: Tiefes Verständnis von
Microservices, Monolithen, ereignisgesteuerten Systemen etc..
- Modellierung komplexer Domänen: Techniken wie
Domain-Driven Design (DDD).
- Analyse von Trade-offs: Systematische Abwägung von
Performance, Kosten, Sicherheit und Wartbarkeit.
- Denken in Schnittstellen (APIs): Entwurf von klaren
Verträgen zwischen Systemkomponenten.
Pädagogischer Ansatz: Projektbasierte Kurse und
Fallstudien anstelle von isolierten Programmieraufgaben.
Curriculum-Fokus 2: Kritisches Denken & Validierung
Vom Schreiben zum Überprüfen
Was wir lehren müssen:
- Systematische Code-Reviews: Effiziente Analyse von
fremdem (KI-)Code auf Lesbarkeit, Logik und Wartbarkeit.
- Secure Coding: Tiefes Verständnis gängiger
Sicherheitslücken (z. B. OWASP Top 10) wird zur Grundvoraussetzung.
- Robuste Teststrategien: Entwurf umfassender
Testpläne, die über einfache Unit-Tests hinausgehen.
- Ethik der KI: Sensibilisierung für Bias,
algorithmische Diskriminierung und gesellschaftliche Auswirkungen.
Pädagogischer Ansatz: “Adversariale”
Programmieraufgaben, bei denen Studierende KI-Code auf Schwachstellen
untersuchen müssen.
Curriculum-Fokus 3: Intelligente Kollaboration
Vom Einzelkämpfer zum
KI-Dirigenten
Was wir lehren müssen:
- “Prompt Engineering” als technische Spezifikation:
Formulierung präziser, kontextreicher und unmissverständlicher
Anweisungen für die KI.
- Mensch-KI-Interaktion (HAX): Verständnis für die
Funktionsweise, Stärken und Schwächen von LLMs, um Automation Bias zu
vermeiden.
- Kollaborative Werkzeuge: Effektiver Einsatz von Git
und CI/CD-Pipelines zur Nachverfolgung und Validierung von KI-Code.
- Technische Kommunikation: Fähigkeit, komplexe
Architekturen und Design-Entscheidungen klar zu vermitteln.
Pädagogischer Ansatz: Pair-Programming-Aufgaben, bei
denen ein Student die KI “dirigiert” und der andere den Output
validiert.
Fazit & Diskussion
Programmieren relevanter
als je zuvor
Fazit:
Programmieren zu lernen ist heute wichtiger denn je. Es ist die
Schulung in der Fähigkeit, mit komplexen, logischen Systemen zu
interagieren, sie zu entwerfen, zu steuern und zu validieren. Es schult
das Gehirn in Logik und Abstraktion – genau den Fähigkeiten, die zur
Steuerung mächtiger KI-Werkzeuge notwendig sind.
Diskussionsfragen:
- Wie können wir diese neuen Kompetenzen effektiv bewerten?
- Welche Rolle spielen traditionelle Informatik-Grundlagen (z. B.
Komplexitätstheorie)?